Artikel aus dem Heft
In den Gefilden der universalen Bürgerei
Kaum ein Begriff hat in den letzten Jahren eine so steile Karriere hingelegt wie der des Bürgers und in seinem Windschatten der des Bürgerlichen. Eine bestimmte Eigenschaft ist zu einer überbestimmten und übereinstimmenden Überzeugung geworden.
Bürgerliche Höflichkeit hatte jedoch ein ganz anderes Problem: Sie galt nicht für alle. Ihre schützende Wirkung erstreckte sich nicht auf alle Mitglieder der Gesellschaft.
Der citoyen als Schmalspur-bourgeois
Nun wissen wir, dass die Warengesellschaft sans phrase in den burgi der feudalen Epoche ihren Ausgangspunkt nahm: Ursprünglich war dieses im Grunde extra-feudale Gebilde, im Raum eng begrenzt, der Rahmen für eine Körperschaft (einen „Schwurverband“) von Handwerkern und vor allem von Händlern – den aktiven Demiurgen des Austauschs.
Vom Klassenkampf zum abstrakten Individuum
Das Bürgertum sah sich an der Spitze des Fortschritts stehen, es empfand seine Lebens- und Denkweise als beispielgebend für die ganze übrige noch halb im Mittelalter steckende Bevölkerung und entbehrte bei der Verkündung seiner Art von Vernünftigkeit und alkoholischer Mäßigung oft nicht eines gewissen pädagogischen Eifers. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rückte das Bürgertum vollends zur „guten Gesellschaft“ auf.
Das moderne bürgerliche Exemplar hat die Zwänge von Wert und Geld völlig aufgesogen, kann sich selbst ohne diese gar nicht mehr vorstellen. Es beherrscht sich wahrlich selbst, Herr und Knecht treffen sich im selben Körper.
Was könnte das sein, ein nicht-faschistischer Bürger? Die entscheidende Frage lautet: Wie werden Verdrängung und Triebverzicht im Subjekt durchgesetzt? Ohne sie ist laut Freud keine Kultur möglich – mit ihnen mitunter allerdings auch nicht.
Salzburg. Hier gibt es die Wahrheit im ersten Satz. Jeder ist „Ein Heim Ischer“ und lässt kritische Worte nicht zu. Neben dem Gruß „Olasisschee“ verabschiedet man sich mit „Goschn hoidn“.
Zu erinnern ist an den weithin vergessenen Göttinger Dichter Gottfried August Bürger, einen Bürger nicht nur dem Namen nach, sondern auch im idealen Sinn: einen Citoyen.
Spielen wir einmal kurz durch, was wäre, wenn wir das Tauschen sein ließen, wenn wir aufhörten, uns gegenseitig zu Leistung und Gegenleistung zu erpressen – und Corona wäre da.
Angefangen hat bekanntlich alles mit der Pockenimpfung. Dieser Impfstoff war sehr erfolgreich und gut verträglich. Dasselbe gilt für die Impfung gegen Kinderlähmung. Eine Erfolgsstory also. Heute ist die Situation in unseren Breiten jedoch eine ganz andere – sowohl was die gesundheitlichen Bedrohungen als auch was die Verträglichkeit bzw. die Sicherheit der Impfstoffe betrifft.
Zur Konstruktion postmoderner Subjektivität in einem „postideologischen“ Zeitalter
Franz Schandl hat mir vorgeschlagen, einen Artikel zur bürgerlichen Ideologie zu schreiben. Diesen Vorschlag unterlaufe ich eine Spur weit: das drängendste Problem unserer Zeit scheint mir nämlich weniger Ideologie als solche zu sein als eine massive ideologische Verwirrung.
Tatsächlich ist der Bürger seit der Aufklärung eine hofierte und protegierte Figur. Als höchster Ausdruck des Menschseins genießt er Ansehen wider Wissen. Gegen die Bürgerei und ihre Werte zu sein, das ist Blasphemie.
Lockdown und Ausgangssperren, Ausnahmezustand und Tracing-Apps, Zwangstestungen und Quarantänen, Serienanhaltungen und Maskenpflicht, Kurzarbeit und Massenarbeitslosigkeit, Konkurswellen und erweiterte Armutsfallen: die COVID-19-Katastrophe hat die chronifizierte Krise der Kapitalverwertung mit sinkenden Profit- und mediokren Wachstumsraten eskalieren lassen.